Über die Wände und den Boden spüre ich die Vibration des Gongs mehr als das ich den Ton höre. Mit dem Gong klingen Glocken, traditionelle Oboen und der nie abreißende tibetische Kehlkopfgesang, der wie eine knatternde Motorsäge über die Lautsprecher hallt. Ich sitze ganz hinten in der Stupa, in der Hierarchie hinter den Lamas, den Nonnen und Mönchen. Die Nonnen und Mönche sind zwischen fünf und hundert Jahre alt. Sie sitzen in Reihen, getrennt nach Geschlechtern, zwar nicht streng, aber doch sortiert nach Alter. Am Ende, in meiner Nähe, sitzen die jüngsten Nonnen in Grüppchen, getrennt durch ältere Nonnen, die sie regelmäßig zur Ordnung rufen, ihnen Süßigkeiten zustecken oder ihre Tücher arrangieren. Die jungen Mönche und Nonnen kommen häufig sehr früh in die Klosterschule. Mir erscheinen sie furchtbar jung und zerbrechlich. Ich kann mir kaum vorstellen, wie grausam es gewesen sein muss die eigene Familie so früh zu verlassen, dabei sehen sie alle fröhlich aus, wie sie da in Reih und Glied mit ihren älteren Schwestern und Brüdern sitzen.
Die Neujahrsgompa (Neujahrsmesse) zieht sich über drei Stunden. Neben den endlosen Gebeten und Gesängen, die meinen Ohren nach nicht zu unterscheiden sind, werden Geld und Süßigkeiten an die Mönche und Nonnen ausgeteilt. Wir essen Reis mit Butter, Kokus, Bohnen und süßen Bohnen, sowie Buttertee und süßen Marsala Milchtee. Ein Geschmacksuniversum, welches sich für uns Europäer als schwer verträglich herausstellt. Unsere kanadische Lehrerin hatte uns vorgewarnt und gebeten, beim trinken des Buttertees an Suppe zu denken, nicht an Tee. Und das ist alles, was ich wissen muss, um ihn voll Genuss zu trinken. Zur Erleichterung meiner Sitznachbarn. Nach zwei Tagen, ist die Gruppe bereits zusammengewachsen. Ich habe noch lange nicht mit allen geredet, wir sind fast hundert Leute, jedoch sind die meisten Gesichter bereits so vertraut, dass es ein Leichtes ist, sich miteinander zu verbünden.
Die Gompa endet damit, dass die Lamas gelbe Hüte aufsetzen. Die Hüte sind halbrund und haben gelbe Federn. Die Nonnen gehen leer aus. Am Nachmittag erklärt uns unsere Lehrerin, dass das mit der Gleichstellung ein langwieriges, aber langsam und stetig besser werdendes Prozedere sei. Der Dalai Lama sei stark dafür. Sie erzählt uns auch von den ersten Nonnen die dieses Jahr die Ausbildung zu buddhistischen Lehrern absolviert haben (Lamas). Ein Detail, das mich in kreative Euphorie stürzt. Den ganzen Morgen habe ich in die zahlreichen Gesichter der jungen und älteren Nonnen geschaut. Sie sind so unglaublich schön, ihre Gesichter so gezeichnet und voll mit Emotionen, so lesbar, so offen, so neugierig. Ich habe große Lust sie zu portraitieren. Auch das ist eine Idee für später. Für nach der Reise. Vielleicht.
Lunch wird heute sowohl in der Kantine serviert, als auch vor der Gompa. Der grüne Garten füllt sich mit roten und orangenen Tüchern. Die Nonnen und Mönche werfen sich zusammen gekrempelte Tücher über die Köpfe, um diese vor der Wintersonne zu schützen. Die allgemeine Fröhlichkeit ist ansteckend. Ich sehe wie alte Freunde breit grinsend aufeinander zu laufen, sich Freundlichkeiten entgegen werfen und junge Lamas, die mit ihren älteren Brüdern den Tag verspielen. Es sind schöne Bilder. Dass sie mich beeindrucken unterstreicht nur, wie wenig ich diese Religion kenne.
Später, auf dem Weg zu meinem Zimmer, in Begleitung einer anderen Kursteilnehmerin, kann ich mir ein erfreutes und überraschtes Lachen nicht verkneifen. Es platzt aus mir heraus, noch bevor ich registriere wer sich in der Nähe befindet. Obwohl das überhaupt nicht nötig ist, bin ich so daran gewohnt in religiösem Rahmen dekorum zu bewahren, dass ich mir ein verschämtes Zusammenschrecken nicht verkneifen kann. Natürlich sind wir nicht alleine im Stupagarten, zwei Mönche mittleren Alters laufen direkt auf uns zu. Fasziniert schauen sie uns an, lächeln so breit, wie ich es bisher nur auf den Gesichtern der Mönche und Nonnen gesehen habe und sagen: „Very happy. You are very happy. Very good.“ Verzagt lächeln wir zurück, etwas verschämt und überrascht. „Happy New Year“ wirft er hinter her und wir erwidern den Gruß. Wieder einmal eine kleine, schöne Begegnung. Hier verewigt, weil ich den Namen des ersten buddhistischen Mönches mit dem ich ein Wort wechsle, natürlich nicht erfahren habe.
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