Ich entscheide mich dafür, einen weiteren Treck zu machen, den Anapurna Circuit. Ich besorge mir die Permits, kaufe Eispicken, Wanderstöcke und Proviant. Als der Tag kommt an dem ich loslaufen soll, bleibe ich im Hostel. Dieser Treck würde mich reizen, jedoch ahne ich nicht, was mich eigentlich zurückhält. Ich treffe eine junge Amerikanerin beim Frühstück und erzähle ihr von meinem Zögern zurück auf den Treck zu gehen. Sie ist bis zum Anapurna Base Camp gelaufen und versteht sofort. Sie erzählt mir von den Nahtoderfahrungen an Berghängen und von den zwei Touristen, die auf dem Weg nach oben gestorben waren. Der eine, weil er seine Symptome ignoriert hat, der andere, weil der Helikopter wegen schlechten Wetters nicht rechtzeitig einfliegen konnte.
In Pokhara redet niemand von den Toten, den Verletzen und der Gefahr. Alle erzählen von dem einmaligen Erlebnis oben auf dem Berg. Bestseller wie „Into thin air“ findet man in fast jedem Gepäck, die Gespräche drehen sich um Massenunglücke, wie den Schneesturm 2014, der 39 Menschen in den Tod riss, aber die alltäglichen Todesfälle sind niemandem bewusst. Da oben braucht man keinen Schneesturm, um zu sterben, es reicht eine Gruppe, die zu schnell läuft, ein schlechtes Körpergefühl, ein loser Stein am Abhang, schlechte Konzentration, Müdigkeit. Die Liste lässt sich unendlich fortführen. Nach einigem Googlen bleibe ich ratlos. Ich würde gerne wissen, wie viele Menschen im Jahr auf den „leichten“ und „ungefährlichen“ Trecks sterben. Schließlich weiß ich, dass während meiner Zeit in Nepal, mindestens eine Person, aber möglicherweise zwei auf dem Mardi Himal ums Leben gekommen sind und das in den zwei Monaten, in denen ich vor Ort war. Die Trecks gelten allgemein als ungefährlich und für Touristen sicher. Hier geht es nicht um Gipfelbesteigungen oder ähnliches. Gipfelbesteigungen sind gut dokumentiert, mit klar einsehbaren Todesstatistiken. Aber Zahlen der „normalen“ Trecks sind nicht zu finden. Was man jedoch findet, sind Zeitungsartikel von Ausländern und der Tourismusindustrie in Nepal. Je nach Fokus wird die Schuld den „unvorsichtigen und leichtsinningen“ Nepalesen oder den „unvorbereiteten und dummen“ Ausländern zugeschoben. Beide haben recht und irren dennoch. Die Realität ist viel komplizierter, denn die Gefahren sind nicht leicht einschätzbar und Fitness und Vorbereitung haben nur bedingt damit zu tun, ob man glimpflich davon kommt oder verunglückt.
Der Grund, warum die meisten Menschen so einen Treck nur einmal machen ist der, dass sie beim Gehen die Gefahren verstehen lernen, so wie ich. Häufig sind diese Gefahren nicht vorhersehbar und gefährlich, ob man nun mit Guide geht oder ohne. Da ich bevorzugt alleine wandere, war mir nicht wohl dabei, mich dieser Gefahr noch einmal auszusetzen. Auf meiner letzten Wanderung habe ich mich nur an wenigen Stellen auf dem letzten Abschnitt unsicher gefühlt. Alles andere war für mich in Ordnung, aber natürlich war es nicht sicher. Nichts in Nepal ist sicher.
Ich höre auf mein Bauchgefühl und bleibe in Pokhara, in meinem gemütlichen Schlafsaal, mit meiner entspannten Routine und genügend Zeit, um zu schreiben und Ukulele zu lernen. Mir wird langweilig - zum ersten Mal seid 575 Tagen. Zunächst ärgert mich dieses Gefühl, aber bald finde ich das Vertraute darin. Zum ersten Mal passiert nichts um mich herum das mich überfordert, ohne dass ich mich in einem artifiziellen Sicherheitsraum befinde. Ich kann aktiv werden, meinen Tag vorhersehen und planen. Es ist ein ungewöhnliches Gefühl. Ständig schwebe ich zwischen der Ungeduld, am Zügel gehalten zu werden, nicht weiterziehen zu können, und der phlegmatischen Stimmung, die mich tagtäglich einholt. Die Ruhe ist mir häufig nicht willkommen, aber wieder einmal übe ich mich in Geduld. Ich finde Freude in den Begegnungen mit anderen Reisenden und Einheimischen. Die Tage und Wochen tröpfeln an mir vorbei, ich entspanne mich und bin, als es endlich zurück nach Kathmandu geht, gespannt wie eine Reisleine darauf, weiterziehen zu können.
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