LHASA ODER DAS LEBEN IN TIBET

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Lhasa ist eine Stadt gefangen zwischen Fortschritt und Tradition, Tibet, China

Lhasa ist ein besonderer Ort. Hier laufen die Bettler mit Stofftaschen voller Geld umher (auch wenn diese nur mit Pfennigscheinen gefüllt sind) und die Einheimischen tragen indische Cowboyhüte. Das Sonnenlicht fällt gleißend in die ungeschützte Iris eines jeden Dummkopfes der Sonnenbrille oder Hut zu Hause lässt (oder wie ich auf der Rückbank eines Taxis vergisst). So gut wie jeder scheint ein Pilger zu sein. Drei Pilgerrouten führen durch die Stadt: die ehemalige Stadtgrenze (Lingkhor) entlang, um den Jokhang-Tempel und Teile der Altstadt (Barkhor) herum, im Innenhof des Jokhang-Tempels (Nangkhor) und um den Winterpalast. Das monotone Gemurmel der buddhistischen Mantras, das rhythmische Spinnen der Gebetsmühle und das schabende Geräusche welches ihre Handschützer machen, wenn die metallenen Oberflächen über das Pflaster kratzen, während ihre Körper sich lang strecken und der Kopf sich demütig zur Erde senkt, lässt mich sprühende Funken erwarten. Aber die kommen nicht. Es ist eine routinierte Bewegung. Die Menschen gleiten manchmal mühelos, andere vom Alter und der Krankheit verlangsamt aus der 'gen Himmel gestreckten Pose bis auf den Boden. Manchmal sind es Grüppchen, die sich treffen, um sich nebeneinander zu postieren, dabei Sweet-tea oder Butter-tea trinken, andere Male sind es einsame Büßer.

Tibetische Frauen tragen, wenn sie verheiratet sind, Rock, Schürze und Hut, Tibet, China
Vor einer Wand im Sommerpalast, Lhasa, Tibet, China

Nach Tibet kommen nicht viele europäische Touristen. Man behandelt mich mit freundlicher Reserviertheit. Nirgendwo bewege ich mich unbemerkt jedoch muss ich mich nicht davor fürchten, angesprochen oder angefasst zu werden, denn niemand spricht Englisch. Nur chinesische Touristen trauen sich, nach einem Selfie zu fragen, aber ich lehne ab. Ich weiß was mit solchen Fotos in Indien und Nepal passiert und da ich in der Regel keine Fotos von chinesischen Touristen (oder Einheimischen) mache, möchte ich mich auch nicht auf ihren Kameras befinden. Da bin ich ziemlich dickköpfig und (in den Augen der anderen Touristen) unfreundlich. Aber auch das berührt mich wenig, denn dieser kurze Austausch hat nichts mit kultureller Begegnung zu tun. Es ist ein mit dem Finger zeigen und das ist mir unangenehm.

Der Winterpalast (Potala Palace) von einer ungewöhnlichen Perspektive, Lhasa, Tibet, China

Auf der Suche nach Klarheit fällt mein Blick auf die Gesichtszüge in meiner Umgebung. Chinesen und Tibeter sind für mich schwer zu unterscheiden. Nicht weil sie sich tatsächlich ähnlich sehen, sondern weil die beiden Kulturen sich vermischen. Die jungen Menschen sehen oft ähnlich aus. Ich bin mir bis zum Schluss nicht sicher und das Spektrum bleibt groß. Häufig sieht man die bekannten runden Gesichter der Kinder mit den roten Wangen, aber genauso oft erinnern mich die gegerbten Gesichter der älteren Menschen in traditionellen Kleidern an Nepalesen. Kleidung und Haut geben häufig mehr Auskunft als Gesichtszüge. China ist kein homogenes Land und meine Überraschung darüber zeigt mir, was für eine genaue Vorstellung ich von diesem schwarzen Fleck auf meiner Landkarte hatte.

Traditionelle Wandfarbe, Winterpalast, Lhasa, Tibet, China
Straßenbild, Lhasa, Tibet, China

Mit der obligatorischen Begleitung meines Fremdenführers werde ich durch und an den Sehenswürdigkeiten der Stadt vorbeigeführt. Der Winter und der Sommerpalast des Dalai Lamas sind wunderschön. Der Winterpalast thront stolz auf dem Berg. Der Sommerpalast ist eingebettet in einen Park voller Bäume und Blumen, eine Seltenheit hier oben. Im Schutze der Mauern sieht der Frühling so aus wie zu Hause. Pinke Pfirsichblüten und blaue Himmel lenken ab von braunen Böden und den letzten Überbleibseln von Schnee. Seit 21 Monaten habe ich so etwas nicht mehr gesehen und diese zerbrechliche Schönheit macht mich merkwürdig emotional. Zwischen Finnland und Tibet sieht der Frühling anders aus. Er ist kälter, brauner, nasser, oder wärmer, grüner und kürzer. Es ist einfach nicht dasselbe und meine Augen fallen mir fast aus dem Kopf. Es ist schön, vertraut und losgelöst von dem kargen Ort, an dem ich mich befinde.

Sommerpalast des 14ten Dalai Lamas, Lhasa, Tibet, China
Frühling im Sommerpalast, Lhasa, Tibet, China
Bambus/Baum Allee, Sommerpalast, Lhasa, Tibet, China

Aus Europa kommend, wusste ich, dass die Chinesen die Tibeter unterdrücken. Jedoch war mir nicht deutlich, dass sich das nie ändern wird. Der tibetische Unabhängigkeitskampf ist gekämpft und verloren. Die Unterdrückung ist weitgehend unsichtbar für Touristen, denn an der Oberfläche läuft einiges richtig. Jedes neue Gebäude wird in tibetischem Stil geschmückt. Überall sieht man die Menschen ihre Religion ausüben. Man könnte denken, es sei alles normal. Die Chinesen machen ihre grausamen Geschäfte intelligent und mit eiserner Faust im Hintergrund. Die Unterdrückung findet sich im System und in der Bürokratie. Zum Beispiel haben Tibeter keinen Pass und dürfen daher nicht ins Ausland reisen. Einige tun dies dennoch (Länder wie Indien haben eine laxe Einreisepolitik gegenüber den tibetischen Buddhisten) und werden nach ihrer Rückkehr ins Gefängnis gebracht. Die Krankenhäuser sind ausschließlich mit chinesischen Ärzten besetzt, weil die Tibeter nicht über die notwendigen Papiere/Ausbildungen verfügen. Schulen und Kindergärten unterrichten zuerst Chinesisch und dann die Minderheitensprache, wenn nicht Englisch. Dies trägt dazu bei, dass die lokale Kultur langsam verschwindet. Zwischen frühkindlicher Bildung und dem Internet ist das Überleben kleiner Kulturen schwierig. Das Interesse an Geistern, östlicher Medizin und buddhistischer Philosophie wird von den sozialen Medien und dem Fortschritt verdrängt. Obwohl jeder, mit dem ich gesprochen habe, von der Überlegenheit der buddhistischen Philosophie überzeugt ist, möchte keiner von ihnen die Zeit investieren, um sie ein Leben lang zu studieren. Tibet ist mit seiner Stellung in China nicht alleine. Viele dieser Dinge passieren in anderen Provinzen ebenfalls. Allerdings sterben Kulturen auf der ganzen Welt. Von Europa bis nach Asien ist das ein zentrales Thema. Und ich beginne zu überlegen, wie viel ist chinesische Unterdrückung und wie viel der Preis des Fortschritts, sozusagen der Geist der Zeit?

Die unaufhaltsame Moderne, Lhasa, Tibet, China
Alles geht, Lhasa, Tibet, China
Kloster Sera, Lhasa, Tibet, China
Sandmandala im Kloster Sera, Lhasa, Tibet, China
Die Mönchsdebatte, Kloster Sera, Lhasa, Tibet, China

Im Sera Monastery, einst eines der ehemals größten buddhistischen Klöster Tibets, darf ich, wie alle anderen Touristen auch, die Mönchsdebatte verfolgen. In bequemen Turnschuhen werfen sich die Mönche in die Verteidigung ihrer Thesen. Dabei Klatschen sie entschlossen in die Hände, wenn sie einen Gedanken zu Ende geführt haben. Dadurch entsteht eine angespannte und dynamische Atmosphäre. Schaut man nur auf die Füße entsteht, durch die Wiederholung des Ausfallschrittes, der Eindruck sie würden tanzen. Ihre roten Köpfe, die zusammengebissenen Zähne und die manchmal im Eifer sprühende Spucke machen das Spektakel einem Gladiatorenkampf vergleichbar. Gegenüber dem debattierenden Mönch sitzt mit zusammengeschlagenen Füßen, ein anderer Mönch und hört sich geduldig die Auseinandersetzungen des Tanzenden an. Mit deutlich leiserer Stimme pariert er die Angriffe, weißt seinen Gegenüber in die Schranken und zeigt die Schwächen in der Argumentation auf. Ein oder zwei weitere Mönche hören zu, Nicken oder Schweigen. Sie greifen in der Regel nicht in die Auseinandersetzung ein, aber fungieren wenn nötig als Schiedsrichter. Bedenkt man das einst tausende von Mönche sich hier verglichen und begegneten, ist die agile, aber kleine Gruppe die sich an diesem Tag im Debattierhof einfindet eine traurige Erinnerung daran, dass auch diese Lebensweise aussterben wird.

 

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