Ich habe ein wenig den Überblick darüber verloren, was ich bereits gesagt habe und was nicht. Aber eines ist mir klar, über Traditionen kann ich hier in Russland nicht schreiben. Mein Erleben der Kultur ist ein ganz anderes als in anderen (Europäischen) Ländern. Mein gesamtes Vorwissen ist von Vorurteilen überschattet und im Prinzip habe ich die letzten vier Monate damit verbracht, sie aus dem Weg zu räumen. Ich habe keinerlei Expertise, die mir einen Nordpfeil geben würde, die ein Schreiben über Russische Traditionen für jemanden der auch nur ein wenig über das Land weiß, genießbar macht. Ich komme über mein eigenes Erleben der Kultur nicht hinaus, deshalb werde ich im Folgenden über kulturelle Unwägbarkeiten schreiben. Eine, meiner Meinung nach, viel treffendere Bezeichnung meiner Umstände.
Neulich haben mich meine Gastgeber zu einem Deutschen Gastspiel in Samara mitgenommen. Eine Theatergruppe aus Stuttgart (russischer Regisseur und drei deutsche Schauspieler), spielten „Die toten Seelen“ von Gogol, ein Text der den Russen hier so bekannt ist, wie uns wahrscheinlich nichts in der deutschen Literatur. Jeder in Russland hat es in der 10. Klasse in der Schule lesen müssen. Jeder kennt den Inhalt und die meisten (mit zwei Ausnahmen) sprechen oder studieren Deutsch.
In Deutschland ist es kaum vorstellbar, eine Gruppe von knapp achtzig Menschen zu einem Schauspiel zusammenzubringen, welche ein deutsches Stück in einer fremden Sprache aufführen. Wenn man ein fremdsprachiges Stück sehen möchte, gibt es dafür Theater wie „The English Theater“ in Frankfurt, wo Schauspielensembles aus England und Amerika ihr Programm zum besten geben. Deutschland ist so klein, dass es ein leichtes ist, in die Metropolen zu reisen, in denen es fremdsprachige Angebote gibt. Würden wir einer Britischen Schauspielgruppe dabei zuschauen, wie sie unseren Faust adaptiert? Ich weiß nur von mir, dass ich höchstwahrscheinlich nicht mit von der Partie wäre (außer es ist ein Starregisseur und eine hochgelobte Inszenierung, vielleicht dann, aber nicht aus eigenem Antrieb. Oder vielleicht bin ich in dieser Hinsicht auch besonders versnobt?)
Ich bin verwöhnt von der Greifbarkeit meiner Nachbarländer und der Infrastruktur meines kleinen Landes. Hier in Russland freut man sich darüber, dass sich Ausländer mit russischen Stoffen auseinander setzen. Es kommen Fragen auf, aus denen klar wird, dass es weithin Verwunderung auslöst, dass in einem Land wie Deutschland ein Stoff, in dem es vorwiegend um Trickbetrügerei und Korruption geht, auf fruchtbaren Boden fällt. Ansonsten freut man sich darüber, dass eine Frau die Rolle des reichsten und geizigsten Landedelmanns im Stück darstellt (Pljuschkin) und wundert sich über die Repräsentation der Frauen, die alle verrückt erscheinen. Denn auch hier in der Provinz Russlands spürt man die Ausläufer des neu erwachten Feminismus meiner Generation. (Auch wenn andere fest behaupten, den gäbe es hier nicht.)
Das für mich wichtigste? Es fällt endlich ein jahrelang steckengebliebener Groschen: Die großen Russischen Autoren beschrieben vor allem ihr Land und die Charaktere die es hervorbrachte. Alles was für mich so außerordentlich merkwürdig, fantastisch, umständlich und weit hergeholt wirkte, ist es nicht. Es passt in das Land, welches ich hier gerade die Chance habe kennenzulernen. Ich bin so fasziniert von dem Stoff (den ich noch lange nicht im Original lesen kann), dass mir die deutsche Übersetzung große Freude macht. Nur eines stört mich. Das ständige Bekreuzigen der Schauspieler. Denn sie bekreuzigen sich wie Katholiken, mit dem Daumen. Stirn, Herz, links, rechts. Eine Geste der Frömmigkeit, die mir vertraut ist. In Russland bekreuzigt man sich jedoch orthodox, mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger. Eine Kleinigkeit, die mich dauernd daran erinnert, dass das hier nicht ganz korrekt ist. Und dann sind wir wieder bei meiner Deutschen Verbohrtheit...
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