Mein guter Freund John hat unter meinem Post „A short glance over my shoulder“ eine Frage gestellt, die eine ellenlange Antwort nach sich zieht: „Mich würde interessieren, warum du den Iran zum gefährlichsten Land gewählt hast und nicht Russland, Indien, Nepal oder China?“ Und wie das bei großen Fragen ist, beginnen wir am Anfang...
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„Hast du denn keine Angst?“ ist immer noch die erste Frage, wenn ich Menschen von meinen Reiseplänen erzähle. Überall auf der Welt sind die Reaktionen die gleichen. Alle haben Angst vor den Anderen. Die Deutschen warnen vor den Polen, die Polen vor den Litauern, die Litauer vor den Esten, die Esten vor den Finnen, die Finnen vor den Russen, etc. Die Anderen sind immer schlimmer als man selbst. Für mich war der Iran das gefährlichste Land, nicht weil es tatsächlich gefährlich ist, nur habe ich dort die Gefahr am deutlichsten gesehen und gespürt. In allen anderen Ländern war die Gefahr abstrakt.
Die Wahrheit ist, dass Gefahr überall lauert, aber nicht überall zuschlägt. Gefahr ist nicht absolut, man kann sie umgehen oder mit ihr flirten und wie ein Mensch verhält sich die Gefahr jedem gegenüber unterschiedlich. Am besten beschreibe ich das an ein paar Beispielen...
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Grenzübertritte sind für mich sicher. Ich hatte noch nie ein Interview oder irgendwelche anderen Probleme, bin zwar an Grenzen häufig nervös, aber ich habe keine Angst. Als Frau werde ich meistens als ungefährlich eingestuft, wenn man mich dann noch fragt, was ich beruflich mache und ich sage, ich bin Lehrerin, dann werde ich durchgewunken. Das ist das Privileg der weißen, gebildeten Frau. Die Dynamiken sind andere, wenn man ein Mann ist oder/und eine andere Hautfarbe hat, keinen Pass etc.
Russland ist z.B. in meiner Einschätzung gefährlicher für Männer als für Frauen. Denn obwohl russische Männer sehr dominant sein können, verstehen und erkennen sie starke Frauen. Viele von ihnen wurden von ihnen aufgezogen. Gleichzeitig gilt auch dort, dass Frauen „beschützt“ werden müssen. Ein Mann kann schnell in einen territorialen Disput involviert werden, eine Problematik in der ich als Frau nicht navigieren muss.
Nepal und Indien sind an sich gefährlich, weil alles möglich ist, die Straßen grottenschlecht sind und der Fahrstil einem Suizidkommando ähnelt. Indien ist gefährlich für alle, denn jeder will jeden über den Tisch ziehen. Und obwohl viel Furchtbares passiert, gibt es eine Debatte in der Gesellschaft über die Ungerechtigkeiten. Auf der Straße sieht man alles, was es auf der Welt gibt. Sklaverei, Reichtum, Tote, Kranke, Kackende, Essende. ALLES.
Nepal ist gefährlich, weil die Straßen und das Essen schlecht sind und die Berge tanzen. Mit ein bisschen gesundem Menschenverstand, kann man die Gefahr umgehen, sie verfolgt einen nicht.
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Der Iran war für mich besonders gefährlich, weil ich als Frau Freiwild war, das nicht verstand, dass es im Fadenkreuz der Jäger stand. Der Iran ist kein gefährliches Land oder nicht halb so gefährlich wie vielleicht Russland. Es gibt gut gebaute Straßen, ein mehr oder weniger funktionierendes Gesellschaftssystem, Trinkwasser und so viel Kultur, dass man nicht alles sehen kann. Es ist nicht an sich gefährlich, nur sind die Regeln und Umstände für eine gut gebildete, weiße Frau unter dreißig, die sich alleine durch öffentliche Räume bewegt, andere. Ohne Beschützer bin ich Freiwild. Frau ist alleine im Ausland und das kann nur heißen, dass sie von ihrer Familie verstoßen ist, schutzlos und zum Verzehr geeignet. Außerdem kennt man weiße Frauen vor allem aus Pornos, aber nicht aus der Realität. Die Nuancen gehen verloren. Wird man angemacht, dann müssen iranische Frauen nein sagen. Ein Ja gibt es nicht, das ist gesellschaftlich nicht vorgesehen. Demnach wurden meine Abfuhren als Aufforderungen für mehr verstanden. Ich wurde in Hinterzimmer gezogen, mit Steinen beworfen, endlos am Arsch begrabscht, mir wurden schmutzige Fantasien ins Ohr geflüstert, ich wurde nachts unaufgefordert im leeren Schlafsaal besucht, in der Dämmerung festgehalten, von vorbeifahrenden Motorrädern und Autos gestreift etc. Dazu kommt, dass ich mich als Touristin, ausschließlich in öffentlichen Räumen bewege und mich demnach der Gefahr nicht entziehen kann.
Im Iran gibt es genauso wie überall anders in der Welt Hotels und Hostels. Alleinreisende Frauen sind in diesen Etablissements nicht erlaubt. Westliche Frauen werden geduldet, Iranerinnen nicht. Dadurch kann man, falls ein Übergriff im Hotel passiert, nicht zur Polizei gehen. Frau hat an diesem Ort nichts zu suchen.
Das alles kann man umgehen, wenn man Familien zu Hause besucht. Das geht über Internetportale wie Couchsurfing etc., und das habe ich häufig gemacht. Jedoch ist die iranische Gastfreundschaft allumfassend. Sobald ich bei jemandem zu Hause bin, begebe ich mich in die Gewalt eines anderen Menschen. Was zu Beginn ein bezaubernder Einblick in das Leben unterschiedlicher Menschen ist, wird sobald ich die ersten blöden Erfahrungen gemacht habe zum Alptraum. Ich habe Angst, die Kontrolle zu verlieren und muss sie immer, wenn ich mich in die Sicherheit eines privaten Haushaltes begebe, abgeben.
Unter normalen Umständen ist die iranische Gastfreundschaft ein Geschenk der Gastgeber. Es ist tatsächlich harte Arbeit Gäste zu empfangen, da man alles für sie tun muss. Als Gast muss man ständig seine Dankbarkeit kommunizieren und Wege finden, es seinen Gastgebern leichter zu machen. Obwohl ich das, was zu meinem Wohl veranstaltet wird, nicht brauche oder auch nur aushalten kann. Das ist für alle Seiten extrem anstrengend und nicht länger als drei Tage am Stück zu ertragen. Also begebe ich mich immer wieder ins Fadenkreuz der Männer und da kommt die Gefahr ins Spiel. Sie ist nicht abstrakt oder diffus. Sie ist realistisch, greifbar. Ich fühle den Atem der Männer in meinem Nacken. Ich weiß, sie sind da. Ihre Augen folgen mir und warten nur auf ihre Chance. Ich bin ständig auf der Hut und dabei, den Attacken auszuweichen. DESWEGEN war der Iran das gefährlichste Land, das ich bisher bereist habe.
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Aber es ist nicht für jedermann gleichermaßen gefährlich. Männer, Pärchen und Frauen über dreißig machen ganz andere Erfahrungen in diesem Land. Ich weiß dass, weil ich zwei Wochen meiner zwei Monate mit einem Mann gereist bin und am eigenen Leibe erfahren habe, wie frei und großartig man sich im Iran fühlen kann.
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