Wilde Geschichten gibt es aus Nepal zuhauf. Manchmal gewinne ich den Eindruck, es wäre ein regelfreier Raum, dieses Land im Chaos. Und doch gibt es Regeln. Das Chaos ist nicht ganz so grenzenlos wie man das beim ersten Blick glaubt. Aber damit eine Brahmanin (oberste Schicht des Kastensystems) ihre Pforten für Ausländer öffnet, ihr Essen und ihr Haus teilt, muss einiges geschehen. Sie muss ihre Religiosität ablegen/neu interpretieren, sich von ihrer Familie distanzieren und Herrin ihres eigenen Schicksals sein. P. ist diesen Weg gegangen. Lebt getrennt von ihrem Exmann, unterstützt ihre Kinder, die beide studieren (ihre Tochter ist mit einem Stipendium in Amerika) und beherbergt Ausländer. Sie ist damit die Verbindung ihres Dorfes zur westlichen Welt. Sie betreibt kulturellen Austausch, erklärt, vermittelt, lacht und kommuniziert. Sie hat S. (stammt aus einem Bergdorf und ist demnach nicht Teil des Kastensystems) die Möglichkeit gegeben, aus einem unerträglichen Arbeitsverhältnis zu entkommen. P. hat S. eine neue Lebensrealität gegeben, die ihr erlaubt, ihre alte Mutter und ihren herzkranken Bruder zu unterstützen. P. betreibt Entwicklungshilfe in kleinem Stil. Ganz lokal und genau da, wo es sinnvoll ist. Sie lebt, was ich zu Hause schon so oft gehört habe: think globally, act locally.
Touristen werden in Nagarkot in hohen Zahlen durch das authentische Nepal geschleppt. Selbst im Winter wird das Geschirr mit kaltem Wasser abgewaschen, es gibt zweimal am Tag Dal Bhat (Reis mit Sauce und Gemüse). Zum Frühstück gibt es entweder nepalesische Pfannkuchen oder Porridge (mit Zucker). Nepal ist eine limitierte kulinarische Entdeckung. Essen ist zum Überleben da, nicht zum Genießen. Hier liebt man Kompost und hasst Plastik, eine warme Dusche gibt es nur bei Sonnenschein und die Lebensqualität ist höher als in manchem Biohaushalt in Europa.
Jeder Ausländer, der dieses Land besucht, möchte helfen. Es erscheint am Anfang einfach, die Probleme fallen einem entgegen. Der viele Plastikmüll, die schlechten Straßen, die armen Menschen und das Kastensystem sind als die größten Übel aus westlicher Perspektive schnell zu erkennen. Jedoch begreife ich deutlicher als jemals zuvor, wie sinnlos Entwicklungshilfe ist, wenn Korruption die Realität im Land bestimmt. Das Geld bleibt hängen an Offiziellen, die sich davon sechsstöckige Häuser in Kathmandu bauen und mit fetten neuen Jeeps durch Nepal cruisen. Möchte man auf eigene Faust Entwicklungshilfe betreiben, weil man den Institutionen nicht traut (wohlgemerkt aus gutem Grund), dann rennt man ebenfalls in Sackgassen. Die Anzahl an westlichen Besuchern, die für ein paar Monate in einer Schule in einem Bergdorf unterrichten und glauben, sie brächten Erneuerung in die Welt, ist so groß wie sinnfrei. Viele wünschen sich die Welt der Kinder zu öffnen, dabei bringen sie vor allem Geschichten in die Dörfer, erwecken Sehnsüchte, aber keine echten Möglichkeiten. Sie halten den kleinen Finger hin, mit der Sicherheit eines Tages weg zu gehen, das Elend nicht mehr sehen zu müssen. Ich realisiere immer deutlicher, dass es viel mehr Wohltätigkeit erfordert, dieselbe Arbeit zu Hause zu tun, die eigene Gesellschaft zu verändern. Denn greift jemand einmal unseren kleinen Finger und es trennt ihn kein langer Flug von uns, dann ist es deutlich schwerer, die Hand wegzuziehen. Wirkliche Hilfe leistet man nur, wenn man die ganze Hand reicht und ein festes Glied in einer Kette wird. Und das ist schwer. Hier bilden die meisten Freiwilligen eine Reihe von merkwürdigen Erscheinungen, die glauben Lösungen zu kennen, die den Einheimischen nicht einfallen würden. Die Realität ist, dass die Einheimischen bestens Bescheid wissen. Die meisten Probleme sind zu komplex für unsere kleinen Köpfe. Es sind Probleme die eine Gesellschaft lösen muss. (Probleme die es in dieser Art auch in unseren Gesellschaften gibt.) Aber betrachtet man das Kastensystem, dann begegnen einem Probleme, die die Einheimischen nicht als solche begreifen. Das erscheint uns grausam und unfair, aber wir, als Besucher in diesem Land, können daran nichts ändern. Und häufig genug tun wir trotzdem etwas und werden dadurch Teil des Problems. Da wir unser schlechtes Gewissen so wenig kennen, fangen wir zum Beispiel an, Menschen auf der Straße Geld zu geben. Dadurch entsteht eine Bettelkultur und westliche Menschen werden zu Dollarzeichen. Eine Entwicklung, die es anstrengend macht, sich frei zu bewegen und dem Menschen der bettelt, keine alternative Lebensweise ermöglicht. Wir verteilen Pflaster und geben uns der Illusion hin Impfungen zu verteilen. Die Realität ist komplexer als wir sie begreifen und „white guilt“ bringt keine Lösung.
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