DIE BIS JETZT LÄNGSTE ZUGFAHRT

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Das zentrum Lhasa's und der Beginn meiner Reise, Tibet, China

Vom Zentrum Lhasas kämpfe ich mich zum Bahnhof. Wegen einer Fehlübersetzung der Rezeptionsfrau, die mir sagte dass das Taxi 15 Yuan kostet, anstelle der überteuerten 50 Yuan, die er tatsächlich verlangt hat, sitze ich geschlagene 20 Minuten auf der Rückbank. Letztendlich gebe ich ihm die 30 Yuan, die auf seinem Meter stehen. Er ist beleidigt und ich bin angefressen. Durch meinen kleinen Standoff habe ich noch dreißig Minuten, um meinen Zug zu erwischen. Das Gelände ist riesig. Um zum Eingang zu gelangen muss ich in Schlangenlinien über den Vorplatz laufen, durch zwei Sicherheitskontrollen und in ein Nebengebäude, um mein Ticket zu bekommen. Ich stehe geschlagene 20 Minuten in der Schlange. Als ich endlich an der Reihe bin, lädt mein Handy die Datei nicht auf der meine Ticketnummer steht, weil es zum Speicherplatz sparen in die Cloud gesendet wurde, sodass nur ein verpixeltes schwarz-weiß Bild zu sehen ist. Ich komme ins Schwitzen, stelle mich dumm und lege meinen Ausweis vor. Zum Glück reicht das. Sie gibt mir zwei Tickets und ich schleppe mich wieder heraus aus dem Gebäude, um bis zum Hauptgebäude zu laufen, in dem ich den Bahnhof vermute. Bingo. Hier finde ich Tafeln und uniformierte Beamte, die nun zum vierten Mal meinen Pass und dieses Mal auch meine Tickets kontrollieren. Da ich die chinesischen Schriftzeichen nicht entziffern kann, laufe ich der Herde hinterher. Denn obwohl der Bahnhof in Lhasa eine riesige Anlage ist, fährt nur ein Zug ab. Alle gehen in die selbe Richtung und ich folge.

Ein Bahnhof auf der Strecke zwischen Tibet und Südchina, China
Der Blick von der obersten Koje, China

Zugfahren ist etwas schönes. Ich habe in Russland und Indien gelernt, dass eine zugfahrende Nation, etwas besonderes ist. China ist Russland und Indien in diesem Aspekt sehr ähnlich. Im Abteil entsteht schnell eine Geschäftigkeit und ein Rhythmus, der mir fremd erscheint. Morgens, mittags und abends werden Fertignudelsuppen gegessen, die extrem scharf sind, so dass mir die Augen tränen und ich zu schwitzen beginne. Hier gibt es Reisgerichte, die durch eine mir unbekannte chemische Reaktion erhitzt werden. Man gießt Wasser in das mitgebrachte Gefäß, es beginnt zu dampfen und innerhalb der nächsten 10 Minuten ist das Gericht kochend heiß. Verbreitet scheint diese Alternative allerdings nicht zu sein. In unserem Abteil isst so nur eine junge Frau, alle anderen bleiben bei Nudelsuppen.

Mit mir im Zug sitzen Chinesen aus allen Lebens- und Verdienstlagen. Eine Ärztin ist dabei, die aus Peking kommend ihren Beruf in Tibet ausübt. Sie bekommt 50 Tage Urlaub im Jahr, damit sie sich um ihre Familie zuhause kümmern kann. Eine Seltenheit in China. Jetzt gerade ist sie auf dem Weg zu ihren Eltern. Ein anderer, gebürtiger Tibeter, ist unterwegs in den Westen seiner Provinz. Viel mehr erfahre ich nicht, so groß ist auch hier die Sprachbarriere. Im Abteil gibt es nur eine Frau die English spricht (die junge Ärztin). Alle anderen schauen mich mit neugierigen Blicken an, würden gerne sehr viel von mir wissen, aber das klappt nicht. Zu mühevoll ist ihnen die Kommunikation über Googletranslator, zu unverständlich die Antworten. Wieder einmal glaubt man ich sei Millionärin, weil ich reise. Eine Erklärung ist unmöglich. Die Kulturen hier sind weit entfernt von einer offenen, neugierigen und künstlerischen Auseinandersetzung mit der Welt. Man kann so etwas noch nicht einmal denken.

Das Abteil von oben, China
Tibet aus dem Zugfenster, China

Die zwei Nächte und einen Tag, die es dauert, um Tibet zu verlassen, verlaufen ereignislos. Ich liege auf der untersten Pritsche, mir gegenüber liegt ein Tibeter. Die oberen Stockwerke sind gefüllt mit jungen Chinesinnen. Ungeniert gleiten die Blicke der Männer unter die Röcke der jungen Frauen, wenn diese auf ihre Pritschen klettern, als erwarteten sie, etwas zu sehen. Die Mädels scheint das nicht zu stören. Jede trägt eine blickdichte Strumpfhose. Sie wissen worauf sie sich einlassen. Ansonsten verläuft alles mit freundlicher Zivilisiertheit. Man lässt mich in Ruhe die Landschaft betrachten, die langsam an mir vorüber gleitet. Ich sehe unendlich viele Berge und braune Wüsten. Ab und an fahren wir an Industrie, einem Ort oder ein paar Yaks vorbei. Als es dunkel wird funkeln die Sterne, so groß wie ich sie noch nie gesehen habe. Wenn ich auf eigene Faust entdecken und Zelten könnte, würde mich so schnell nichts von hier wegtreiben. Aber ich darf nicht. Und somit sitze ich im Zug und wundere mich, dass wir, als ich am morgen erwache, die tibetische Hochebene noch immer nicht verlassen haben. Grün wird es erst am zweiten vollen Tag meiner Reise, nicht lange bevor wir in einem mir unbekannten Ort halten und den Zug wechseln. Da der gesamte Zug umsteigt, folge ich den Massen, ohne ganz zu verstehen was los ist. Denn auch wenn niemand so wirklich weiß, wie er es mir erklären soll, wird klar, dass sie Angst haben, dass ich nicht mitkomme. Ich bin fast gerührt von ihrer Fürsorge und werde zum Lamm. Im neuen Zug geht es dann weiter durch immer grüner werdende Berge und Täler. Auf meiner Kartenapp sehe ich, wie die Höhenmeter schwinden. In Chengdu kommen wir auf 460 Metern über dem Nullpunkt an. In Lhasa war ich auf 3.600 Metern. Anders als beim Aufstieg spüre ich nichts.

Warten auf den Zug in Chengdu, China

In Chengdu steige ich um in einen Zug nach Kunming. Da ich jetzt weiß wie der Hase rennt, kann ich mich zielstrebig zu meinem Platz begeben und in das oberste Bett krabbeln. Am liebsten würde ich aussteigen und mir die Stadt anschauen. Wie immer wenn ich Entscheidungen weit im voraus treffe, stellen sie sich als Fehler heraus. Ich habe ein Zweimonatsvisum für China bekommen und jetzt bin ich schon fast wieder raus aus dem Land. Es ärgert mich allerdings nicht genug, um das Zugticket in den Wind zu schießen. Also geht es unaufhaltsam weiter 'gen Süden, bis ich etwas orientierungslos in Kunming aussteige.

 

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