EIS, EIS, BABY!

English text
Die Wolga mit den Jiguli-Bergen, Samara, Russland

Das langsame Erwachen der Natur fasziniert mich sehr. So habe ich den Frühling noch nie erlebt. Seit drei, vielleicht sogar vier Wochen friert es tagsüber schon nicht mehr. Trotzdem liegt immer noch Schnee im Straßengraben und auf dem Strand an der Wolga. Jetzt wird dort unten am Fluss der Sand sichtbar und die letzten meterdicken Eisschollen am Ufer liegen verloren herum. An schönen Nachmittagen kann ich erahnen, was für einen schönen Sommer es hier geben wird. Die Eisplatten sind an einigen Stellen des Ufers noch so groß, dass sie sich nicht bewegen lassen. Die kleinen Wellen des noch nicht befahrenen Flusses klatschen leise gegen das Eis, sie höhlen die Eiskanten aus und bilden überraschend stabile, über das Wasser hinausreichende Eisdächer.

Der Wasserspiegel steigt im Frühling zunächst langsam und holt Stück für Stück das Eis ab. Je weiter man den Flusslauf hinunter läuft, desto weniger Eisschollen liegen am Strand. Die Einheimischen erzählen, dass der Wasserspiegel im Laufe der nächsten vier Wochen bis weit über die Uferbewachsung steigen und allen Dreck wegspülen wird. Da mein erster Heimaturlaub kurz bevor steht (wie und warum ein anderes Mal), hege ich die unbegründete Befürchtung, diesen Moment vielleicht zu verpassen. Schließlich weiß man nie sicher, was man sehen wird. Es wäre doch schade zu verpassen, wenn die Bäume im Wasser stehen und mit charmanten Reflexionen hübsche Motive bilden. Gerade mit dem glasklaren Wasser des Frühlings, welches die Wolga im besten Sonntagskleid zeigt, scheint mir dieser Moment besonders festhaltenswert, denn wenn man bei gutem Wetter und Windstille an der Wolga steht (noch ist sitzen ausgeschlossen), vergisst man in Sekundenschnelle die vorwiegend aus Hochhäusern bestehende Stadt, die tummelnden Menschenmassen und den jetzt bereits sichtbar werdenden Staub.

Flusseisschollen, Samara, Russland
Flusseisschollen, Samara, Russland
Flusseisschollen, Samara, Russland

Kommt man nach einem Spaziergang nach Hause, sind die Schuhe schlammverkrustet und schwer, auch wenn man versucht auf dem Trockenen zu laufen und Schlammlöchern auszuweichen. Es gibt kein Entrinnen. Wenn man sich ungekonnt im Schlamm bewegt, so wie ich, sind nicht nur die Schuhe tagtäglich versaut, sondern auch die Hosenbeine. Einmal fand ich einen Schlammspritzer der seinen Weg zu meiner Hüfte gefunden hat, dabei ist mir völlig unklar, wie ich gelaufen bin, um ihn in dieser Höhe durch die Luft zu schleudern. Neben der Mühsal, die mir das bereitet, finde ich das Ganze auch irgendwie toll. Aufregend. Den Schlamm verbinde ich mit Landleben, Pferdekoppeln und Kuhmist, ihn hier direkt in der Stadt zu haben, ruft allerlei Erinnerungen an die merkwürdigsten Momenten hervor. Mit diesem Gefühl stehe ich natürlich auf weiter Flur alleine. Die Einheimischen verfluchen den Schnee und den Schlamm. Sie empfinden ihn als Übel dieser Jahreszeit. Es scheint für sie keine größere Herausforderung zu geben, als diesem Schlamm auszuweichen. Ich muss mich zurückhalten, nicht Anlauf zunehmen und in die Pfützen zu springen. Es scheint mir wie dafür geschaffen. Doch ich habe inzwischen gelernt vorsichtig zu sein, da man nie weiß, wie tief diese „Pfützchen“ tatsächlich sind – vom mannshohen Loch bis zu zwei Zentimetern ist alles möglich. Wie immer in Russland, weiß man nie woran man ist. Don't judge a book by its cover – habe ich hier ganz neu gelernt. Ich scheitere bei nahezu allen Einordnungsversuchen. Immer noch.

Schuhe nach "sorgfältiger" Schneereinigung, Samara, Russland

Nach fast sieben Wochen, ist es mir nicht möglich, die Hochhauskomplexe als etwas anderes als eine Scheußlichkeit zu sehen. Leider weiß ich auch, dass das antrainiert ist. Europäischen Snobismus finde ich in allen Ecken meines Wesens. So ganz abschalten möchte ich ihn nicht, denn er ist viel identitätsstiftender als mir lieb ist, aber zumindest habe ich inzwischen verstanden, dass die Abneigung gegen die Hochhauskultur keine Position ist. Der Mehrheit seiner Bewohner bieten sie eine preiswerte und hohe Lebensqualität, die in Russland nicht selbstverständlich ist. Zwar sind die zahlreichen alten Holzhäuser schöner als fast alle anderen Bauwerke die ich hier gesehen habe und ihr Verfall gibt mir jedes Mal eine Stich, aber der Erhalt ist keine Priorität. Wer glaubt, dass diese Lebensentscheidung eine Frage des Stils ist und nicht die damit einhergehenden Realitäten sieht (z. B. kein Anschluss an die Kanalisation), kann diese Realität bedauern. Für die Menschen hier stellt sich diese Frage meistens nicht. Die wenigsten würden Freiwillig in den kleinen Holzhäusern leben. Zwar kann ich mich, wenn ich ehrlich bin, noch nicht ganz von meiner Verachtung lösen, (denn ein kleiner Teil in mir ruft etwas von: „Dafür findet man doch eine Lösung!“), aber froh bin ich trotzdem, diese Entscheidung nicht treffen zu müssen.

Hochhaus und alte einfache Holzhäuser, Samara, Russland

Als eine meiner Schülerinnen ihren Dorian Gray zückte und wir die erste Seite gemeinsam lasen und Vokabeln klärten, wurde deutlich wie unterschiedlich unsere Lebenswelten tatsächlich sind. Sie hatte keine Vorstellung von dem Geruch eines Blumenladens, in dem alles gleichzeitig blüht und unterschiedliche Düfte sich vermischen, wenn Schönheit plötzlich ins Gegenteil umschlägt. Es ist ein Geruch der mir aus dem Garten meiner Mama vertraut ist. Ich habe ihn im Sommer häufig gerochen, schon bevor ich in unsere Straße einbog. Dieser Duft ist so vertraut, dass ich ihn sehnsüchtig erwarte, wenn ich meine Eltern besuche. Genauso verhält es sich, wenn ich bei offenem Fenster oder bei offener Tür den Blick in den Garten schweifen lasse. Das Idyll ist nahezu perfekt. Die Situation wird meisterlich von Wilde beschrieben. Für jemanden, der der Natur vor allem in den städtischen Parks begegnet, ist die Vorstellung Blumen und Gärten von einem Sofa aus zu betrachten fremd, geradezu grotesk. Fast so grotesk, wie Pfannkuchen mit Messer und Gabel zu essen.

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Comments: 4
  • #1

    Alla (Tuesday, 25 April 2017 14:22)

    Liebe Bella, sag bloß, deine "Samarianer" verkaufen dir besteckloses Pfannkuchessen als eine sympathische russische Eigenart. Nie, nie würden die (zugegenermaßen sehr versnobten) Moskauer in dieses Lied einstimmen...!
    Melde dich, sobald du in deutschen Landen bist. KUSS!!!

  • #2

    Bella (Tuesday, 25 April 2017 15:13)

    Alla, tatsächlich ist das hier ganz normal. (Nicht nur in meiner Familie, auch wenn die Kinder aus unterschiedlichen Haushalten unter sich essen, dann mit den Händen.) Ich musste mich am Anfang daran gewöhnen, aber jetzt ist es zweite Natur! Ich meld mich! (Ich habe mein Handy in der Waschmaschine mitgewaschen, bin desswegen nur hier erreichbar...) Ich hoffe euch dreien geht es vorzüglich! Gruß und Kuss

  • #3

    Yvonne (Friday, 28 April 2017 23:01)

    Oh je, ich hoffe du kannst dich wieder an Messer und Gabel gewöhnen, wenn du hier landest.

  • #4

    Bella (Sunday, 30 April 2017 09:47)

    Liebe Mama, ich werde die von dir erwarteten Selbstverstaendlichkeiten aus den Ecken meines Kopfes herauskramen. ;-)