Hier sagt man, dass es nur zwei Jahreszeiten gibt: den Sommer und den Winter. Der Frühling und der Herbst sind kurz, fast nicht zu spüren. Natürlich stimmt das nur, wenn man der Meinung ist, dass der Winter so lange andauert wie Schnee liegt oder fällt und der Sommer solange kein Schnee fällt. Man kann sowohl den Frühling als auch den Herbst spüren, sehen und riechen.
Als ich ankam war tiefer Winter. Die Erde war bedeckt von einer zwanzig Zentimeter dicken Eisschicht und gut einem Meter Schnee. Die Seitenstraßen hatten tiefe Fahrrinnen, die Hauptstraßen wurden sorgfältig geräumt und die Fußgängerwege waren meistens ordentlich vereist, sowie von Neuschnee bedeckt. Am Wolgastrand versank man bis über das Knie im Schnee, in den Parks waren zwar die Fußgängerwege geräumt, jedoch erhob sich eine meterdicke Eisschneeschicht über den im Sommer grünen Rasenflächen. Noch nie habe ich so viele und große Schneemänner gesehen.
Dann begann es immer häufiger -10° C zu werden, anstelle der bei meiner Ankunft üblichen -25° C. Der Wind hörte auf zu beissen und die Sonne machte ein paar vorsichtige Auftritte. Bei Sonnenschein ging ich dazu über, meine eigene Jacke anzuziehen, anstelle dem von meiner Russischen Familie entliehenen Daunenmantel. Das wurde von meinen Russen mit Kopfschütteln quittiert. Obwohl die Sonne schien und ich in meinen ausgeklügelten Outdoor Fließ-Windschalen-Schichten gut eingepackt war, galt es allgemein als noch zu früh, um sich eine Frühlingsjacke anzuziehen. Nichts scheint hier schlimmer zu sein als zu frieren.
Die ersten Tage an denen die Temperaturen 0° C erreichten waren himmlisch. Die Sonne kitzelte meine Haut und blendete so stark, dass meine Sonnenbrille sofort zum Einsatz kam. Schnee und Licht überfordern mich, jedoch kitzelte die Sonne nicht nur meine Haut, sondern auch die Schneemassen. Zunächst merkt man davon wenig. Das Tauwasser suchte sich meist einen Weg unter oder zwischen den Schnee- und Eismassen. Da die Temperaturen ganz und gar nicht konstant waren, taute es an einem Tag und am nächsten fror es wieder. Alles unter der dicken Eisschneeschicht, die inzwischen an einigen Stellen ein wenig bräunlich wurde. Aber auch dagegen gab es Abhilfe: den Neuschnee. Er kam in dünnen Schichten und war gerade genug, um die unschönen Aspekte des Frühlings noch ein wenig länger zu kaschieren.
Die Seitenstraßen wandelten sich langsam in ein leicht gräuliches Braun, die Konsistenz des Schnees auf der Straße in eine trockene, aber körnige Masse. An einigen Stellen trat die Eisschicht zu Tage und enthüllte die Fahrrinnen. An anderen Ecken standen Männer mit Eisenpickeln um die Eisschicht zu brechen, den Tauvorgang zu beschleunigen und einige besonders gefährliche Stellen zu beseitigen. Die Schneemassen am Wegesrand wandelten sich von der weißen, homogenen Masse in eine Art gräuliches Hochgebirge. Der tauende Schnee floss in seiner flüssigen schwereren Form nach unten und ließ zarte spitze Eisspitzen zurück. Sie sahen aus wie ein Hochgebirge, wie die Alpen vom Flugzeug aus, nur in anderen Größenverhältnissen. Die Schneemasse wurde dadurch nicht kleiner, aber weniger dicht. Das war der Zeitpunkt an dem man den Frühling das erste Mal roch. Um die Mülltonnen der Häuser herum lag ein süßlicher Geruch in der Luft. Die bis dato eingeeisten Essensreste, der wahrscheinlich von den Straßenhunden regelmäßig durchsuchten Mülltonnen, erwachten zum Leben und setzten dort mit der Kompostierung an, wo sie aufgehört hatten. Obwohl der Geruch zu diesem Zeitpunkt noch dezent war, begann ich langsam zu verstehen, was dem Frühling hier so einen schlechten Ruf gab. An den Straßenrändern passiert das Gleiche. Die Hundescheiße der letzten drei Monate, der Müll und die einfach auf die Straße geworfenen Verpackungen tauchen wieder auf und halten den Menschen die Rechnung des Winters vor.
Es passiert auf der Straße und den häufig frequentierten Strecken im Schnee alles ein wenig früher als beim Rest. Den Asphalt sieht man zum ersten Mal auf der Straße, und es wird klar, dass neunzig Prozent der verrückt tiefen Schlaglöcher überhaupt nur durch das Eis entstanden sind. Mit dem Tau werden die schlimmsten Straßen auch in westlichen Augen wieder befahrbar. Der Eindruck des wilden Ostens revidiert sich.
Nachdem die Straßen wieder frei sind, und das Abtauen zu stagnieren scheint, beginnen die ungeräumten Fußgängerwege denselben Prozess zu durchlaufen. Unter Eis und Schnee befindet sich eine gloriose Matschschicht, mit Überresten von Herbstblättern und Hundekot. Es ist nicht schön, aber sorgt der Frühling nicht dafür, die Sünden des Winters zu beseitigen?
Das Wasser rauscht in kleinen braunen Wellen die Straßen herunter und sucht sich seinen Weg in die Wolga. Der Fluss beginnt zu schwellen, wird jedoch so stark durch zahlreiche Stauseen und Staudämme reguliert, dass man das erst gegen Ende des Frühlings, voraussichtlich im Mai, sehen wird. In nur wenigen Tagen ist die Eisschicht gebrochen, die Eisschollen sind den Fluss heruntergetragen worden und dann im Wasser verschwunden. Es fließt so viel Nass die Straßen entlang, dass ich, als ich mit Kopfhörern im Ohr spazieren gehe und durch Zufall Meeresrauschen in meinem Ohr höre, mich verwundert umdrehe in der Erwartung einer größeren Welle, die durch das Einfahren eines Autos in ein Schlagloch ausgelöst worden sein könnte.
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