Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich nichts kann. Nichts so richtig bis ins letzte Detail. Die Perfektion entzieht sich mir. Dabei kann ich objektiv betrachtet eine ganze Menge und nicht wenig davon ziemlich gut. Das ist etwas, was ich mir hier in Russland immer wieder ins Gedächtnis rufen muss. Denn gerade fühlt es sich an, als könnte ich nichts. Ich bin wieder einmal Anfängerin. Für mich ist diese Situation ein Quell der Freude und des Horrors.
Ich liebe es, mich Themen ohne jegliches Vorwissen zu nähern. Ich freue mich über nie erahnte Details und Kleinigkeiten, die mir das Thema, die Sprache, die Kultur in ganz neuem Licht erscheinen lassen. Ich freue mich, wenn meine Gedanken und Erwartungen gebrochen werden. Das ist eine Art zu lernen, die mir leichtfällt und für immer im Gedächtnis bleibt. Das ist der freudige Teil meiner Situation. Der Horror ist das Lernen. Es verursacht mir Schmerzen, psychische und physische. Als Kind dachte ich, das wäre normal, so wäre das Leben und andere Menschen würden sich nur besser damit arrangieren können als ich. Seitdem ich erwachsen bin und vor allem tue, wozu ich Lust habe, muss ich mich mit diesen Empfindungen ein wenig konkreter auseinandersetzen. Schon immer hat sich in mir etwas heftig gegen von außen auferlegte (Lern-)Ziele gesträubt. Ob beim Geigeüben, Einmaleinslernen, im Französischunterricht oder in jeglichen Prüfungssituationen kämpfte ich mit einem Gefühl der unbändigen Wut. Meine Lernziele hatten selten etwas mit den Zielen meiner Lehrer gemein. Oft behinderten sie mich auf meinen Erkenntniswegen. Ich habe wenige Menschen so leidenschaftlich gehasst wie meine Lehrer. Je älter ich werde und je freier ich mich neuen Dingen zuwenden kann, wird für mich greifbar, dass dieses Gefühl wenig mit meinen Lehrern, ihren Fähigkeiten oder ihren Persönlichkeiten zu tun hatte. Ich bin ein Mensch, der keine Schule braucht, um lernen zu wollen. Ich möchte immer etwas Neues entdecken und untersuchen. Es ist irrelevant, ob ich eine Sprache oder eine Sportart lerne. Auf dem ersten Hügel beim Snowboardfahren fühle ich mich genauso schlecht, wie wenn ich anfange, fremde Silben zu formen. Verloren im Unbekannten. Es gibt Menschen, denen eine Anleitung und eine engmaschige Betreuung in dieser Situation hilft. Bei mir ist es jedoch so, dass eine Anleitung zwar häufig hilfreich ist, aber die Fähigkeit etwas Neues zu tun erlange ich ausschließlich dadurch, dass ich es eigenständig mache und meine Fehler selbst erkenne. Mit meinem Frust kann ich am besten alleine umgehen. Ich kann mir Ruhepausen gönnen, wenn es zu viel wird und durchpowern, wenn ich glaube, dass noch etwas geht. Es ist ein fragiles Gleichgewicht.
Jetzt lerne ich Russisch. Konkret heißt das, ich lerne ein neues Alphabet, Blockschrift, Schreibschrift, Vokabeln und Grammatik. Bisher habe ich beim Lernen von Sprachen nur Vokabeln und Grammatik pauken müssen und auch das hat nicht immer ganz reibungslos geklappt. Habe ich die Grammatik einmal so weit verstanden, dass ich meinem Sprachgefühl vertrauen konnte, habe ich sie freudig vergessen. Um die Wörter in den verschiedenen Buchstaben und ihre Bedeutungen in meinen Kopf zu hämmern, verbringe ich zahllose Stunden damit, endlose Seiten in türkisen Arbeitsheften mit kyrillischen Wörtern zu füllen. Ständig muss ich mich aufs Neue versichern, denn das M [m] sieht zum Beispiel in Schreibschrift wie ein u aus und das и [i] ebenfalls. Die Fehlerfrequenz, die ich bei der Blockschrift bald in den Griff bekommen hatte, wird durch die Schreibschrift mindestens verdoppelt. Das Fehlerpotential erhöht sich. So schwer mir die fremden Zischlaute über die Lippen kommen, so ungelenk und verkrampft sind meine Hände beim Schreiben der ungewohnten und doch so häufig ähnlichen Buchstaben. Lässt man mich stundenlang die fremden Laute wiederholen, merke ich sie mir nicht. Ich brauche Zeit, sie mir selber zu ertasten, die unterschiedlichen Positionen der Laute zu erkunden, um sie anschließend einmal richtig zu verorten. Lernen ist kein Aufladen und Entladen. Alles was oben reingestopft wird, fällt als Ganzes unten wieder raus. Nur wenn ich Zeit zum Kauen, Schmecken und Schlucken habe, kann ich das Gelernte verarbeiten. Mir wird mal wieder schlagartig bewusst, dass Kinder den härtesten Job von uns allen haben. In mir reift die Überlegung, dass es eventuell nicht stimmt, dass Erwachsenen das Lernen schwerer fällt als Kindern. Die Erwachsenen haben nur die Reife und das Vokabular, um ihren Schmerz und ihre Schwierigkeiten zu formulieren. Ich wünschte, ich hätte das mit sechs Jahren bereits so ausdrücken können, dann wäre ich jetzt kein mathematischer Analphabet und hätte eine weniger ausgeprägte Dyskalkulie.
Oft wurde mir gesagt, dass mir das Sprachenlernen leicht fiele, dass ich ein sogenanntes Sprachtalent hätte. Ich glaube nicht, dass es so etwas gibt. Egal was man lernt, es ist immer für alle gleich schwierig. Jeder kann alles lernen, wenn man ihn seinen eigenen Weg finden lässt. Neue Wege gehen ist nicht einfach, aber immer wertbringend und man beginnt sie immer als Anfänger.
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Ronja (Friday, 31 March 2017 19:09)
This sounds like the experiences I've made in the end of last year. Even though the alphabet was familiar to me, understanding the signs was hard work and understanding the people nearly impossible. I always thought that I'm really bad in languages, but now after 7 month I'm even able to chat with stranger on the road. I'd call that progress and I'm sure it's not only because of the 2 language courses I've taken last year.
Halt die Ohren steif... es wird (wenn vieleicht auch nur langsam)!