In Moskau werde ich von J. am Bahnhof abgeholt. Ich bin froh, sein vertrautes Gesicht zu sehen und genieße es, nichts in Erfahrung bringen zu müssen, nur zu folgen und alles zu finden ohne zu schauen. Weil ich nur zwei Nächte in der Hauptstadt bleiben werde, bringen wir mein Gepäck weg und stürzen uns in das Gewühl der Stadt. Für Moskau habe ich keine Stadtkarte gemacht. Es ist riesig und ich weiß nur sehr punktuell, was ich alles gesehen habe. Irgendwie vieles um den Roten Platz herum, Millionen von Lichtern, Hunderte von Pelzmänteln, (mehr als fünf, aber weniger als zehn) Metrostationen, schöne Menschen, Supermärkte, Statuen, viele Statuen, Kirchen, Parks, Einkaufsstraßen. Nachts brennen meine Beine, sind so dick wie noch nie und meine Kniekehlen hören nicht auf zu klagen.
Einmal vorneweg: die Stadt ist unglaublich schön. Sie ist groß, bombastisch, alles was die Literatur verspricht und noch viel mehr. Auf den tief in den Untergrund führenden Rolltreppen stehen Menschen allen Alters, Geschlechts und Herkunft. Hier sehe ich zum ersten Mal Menschen die meinem Empfinden nach wie Mongolen aussehen, zumindest wie auf den Fotos von National Geographic. Diversität sieht hier anders aus als in Mitteleuropa, weniger Afrikanisch, eher asiatisch. Asiatisch in einem mir ganz neuen Sinn. Um ehrlich zu sein, bin ich ein wenig belustigt. Wer hätte gedacht, dass es Orte gibt, die man nie zuvor gesehen hat, auch wenn sie auf Milliarden von Fotos und in Geschichten auftauchen. Ich freue mich, in diesem Land verweilen zu können. Gleichzeitig wird jedoch die Befürchtung immer größer, dass es einfacher wäre weiter zu reisen und Russland als Land der Kuriositäten auf Bildern festzuhalten und das Verstehen einem anderen zu überlassen. Würde ich diesem Fluchtgedanken Nährboden geben, wäre ich in sechs Monaten in Australien und keinen Deut klüger. In Moskau kämpfe ich vor allem mit der Angst vor einem weiteren Neuanfang. Vor dem Wissen, dass die kommende harte Arbeit selbstgewählt ist. Ich stehe vor einem riesigen Berg, dessen Schneegrenze im Nebel verschwindet und dessen Gipfelkreuz golden in der Sonne blitzt.
Die Welt um mich herum hat sich so stark verändert, dass das Einsortieren Zeit benötigen wird. Ich weiß überhaupt nicht, wo ich anfangen soll, wie ich das Gesehene verarbeiten und ordnen kann. Der Unterschied zwischen Arm und Reich ist groß. Armut ist hier ärmer als ich es mir vorstellen konnte. Mir wird zum ersten Mal jenseits aller Abstraktion klar, wie das mit der ersten, zweiten und dritten Welt funktioniert, was tatsächlich hinter diesen Begriffen steckt. Reichtum gibt es in allen Ecken der Erde. Und dieser Reichtum sieht zumindest in Russland an vielen Ecken so aus wie in Deutschland. Ich rede hier nicht von Stil oder ästhetischen Kategorien. Ich sehe diese Gemeinsamkeiten vor allem an Alltagsgegenständen: Waschmaschinen, Bleistiften, Autos oder Handys. Die gleichen Marken. Die gleichen Modelle. Billigere Alternativen sind die einheimischen Marken.
Die Hauptstraßen hier sind sehr breit. Wir laufen den ganzen Tag durch die Stadt, schauen uns eine schöne orthodoxe Kirchen an, wandern durch zahllose kleine und große Gassen, vorbei an Palästen und Hochhäusern. Es ist ein wildes Potpourri. Zwischen bunt bemalten orthodoxen Kirchen und mit Lichterketten überschütteten Parks, laufen wir durch relativ leere Einkaufsstraßen (bei der Kälte hält sich der Tourismus in Grenzen). Dauernd sind wir umringt von geschmacklosem Kitsch, klassischer Weihnachtsbeleuchtung, sowjetischer Macht Gestaltung und orthodoxer Pracht.
Durch J.s Kommentare finde ich mich langsam zurecht. Ich schaffe es sogar, mich ohne weitere Komplikationen am nächsten Tag frei zu bewegen, obwohl meine Beine immer noch brennen. Nach einigem Suchen finde ich den noch erhaltenen Feinkostladen Jelissejew von 1901. Ich schreite durch eine Tür und bin augenblicklich in einer anderen Welt. Genau so ging es mir im Kreml. Jenseits von Touristenmassen konnte ich mir ganz in Ruhe die Kirchen der Moskauer Herrschaft anschauen. Es war wunderschön. Ein Besuch im Winter hat seine Vorteile. Wie ich gekommen bin, fahre ich weiter. J. bringt mich zum Bahnhof und ich steige ein, in die erste nächtliche Zugfahrt meines Lebens.
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Yvonne (Thursday, 16 March 2017 09:36)
Tolle Photos!