Als ich aus dem Zug ausstieg, war es bereits dunkel in Sankt Petersburg. Die Zugfahrt hatte nur dreieinhalb Stunden gedauert und so anders fühlte sich das Russland hier im Norden nicht an. Es war ein wenig kälter als Vantaa. Außer dem Übermaß an uniformierten Menschen, der großen Anzahl von pelztragenden Frauen jeden Alters, den kyrillischen Buchstaben und der großen Schere zwischen teuren und billigen Autos, schien mir der Unterschied zwar da, aber nicht schockierend zu sein. In meinem Kopf schwirrten alle Vorwarnung der Menschen aus Russland herum, die mir das Bild eines wilden und rücksichtslosen Landes gezeichnet hatten. Hier jedoch fand ich nichts Wildes oder gar Rücksichtsloses (nicht mal der Verkehr!).
Ich hatte mich als inzwischen vorbildliche Reisende bereits mit einer offline Stadtkarte und dem Metronetz ausgestattet. Meine russische App sagte mir genau, wo ich war, jedoch galt es zunächst einen Geldautomaten zu finden. Da ich am Hintereingang des Станция Санкт-Петербург-Финля́ндский (Finnischen Bahnhofs) herausgekommen war, ging ich einmal um das Bahnhofsgebäude herum, durch die Sicherheitsschleuse beim Haupteingang (ja, wie am Flughafen) und hob meine ersten 2.000 Rubel ab. Damit, so dachte ich, würde ich erstmal eine Weile über Wasser bleiben. Bei meiner kleinen Wanderung um den Bahnhof hatte ich bereits den Eingang der Metrostation gesehen. Ich wusste also, wo ich als Nächstes hinmusste. Ich wusste nicht, wie ich zu meinem AirBnB kommen würde, aber immer, wenn ich einen Schritt voran tat, konnte ich den nächsten in der Ferne erkennen.
Die Metro hatte ihre ganz eigenen Regeln, die sich zum Glück leicht erraten ließen. Ohne mich an einen der allgegenwärtigen Uniformierten wenden zu müssen, verstand ich, wo ich mich anstellen und wo ich hinlaufen musste. An kleinen Verkaufsstellen wurden sogenannte „Tokens“ verkauft, kleine Plastikplaketten, die man in die Personenvereinzelungsmaschine stecken konnte. Ein Ticket bekam man nicht. Der Verkauf lief unglaublich schnell und routiniert ab. Vor und hinter mir standen Menschen, die mich an all die Filme erinnerten, die meine Vorstellungen von Russland geprägt haben. Ich war umgeben von Filmbösewichten und Kleingaunern und musste über mich selbst schmunzeln. Ich würde warten müssen, bis sich meine Bewertungsraster an diese neue Umgebung gewöhnt hätten.
Ungehindert glitt ich die Rolltreppe herunter und hinein in den Palast des Volkes. Die Menschen waren in Pelzmäntel und alte, ausgetragene Klamotten gehüllt. Die jungen Frauen waren unterschiedlich gekleidet. Einige hätte man so auch in einem der Modeblätter aus Paris finden können, andere folgten ganz anderen Vorbildern. Die in Deutschland so auffälligen Russinnen, die stark geschminkt und mit nicht selten operierten Nasen und/oder Lippen umher wandeln, sieht man hier auch, nur sitzen die in der Metro neben Normalos und so wird ein weiteres Vorurteil mit dem ersten Schritt in die Metro geradegerückt. Ganz generell ist das Metrofahren hier so schön, wie nirgendwo sonst. Die Tube in London ist klaustrophobisch, die Métro in Paris ist nur gerade eben ein wenig interessant, in Deutschland muss man gar nicht anfangen, nach Vergleichbarem zu suchen. Unter der Erde befindet sich hier tatsächlich ein Palast.
Mein AirBnB befindet sich in der Nähe des Моско́вский вокза́л (Moskauer Bahnhofs) in einem der Paläste auf dem Не́вский проспект (Newsky Prospekt). Es sind große Räume, die teilweise ein wenig merkwürdig geschnitten sind. Man spürt, dass hier riesige Prunksäle nach der Revolution zu einzelnen Wohnungen gemacht wurden. Von meinem Balkon aus kann ich bis zum Obelisken sehen. Nach einer kleinen Fotosession lasse ich meinen ersten Abend in Russland mit einem Tee in der Hand und meinen finnischen Wollsocken an den Füßen bei -20 Grad genau dort ausklingen. Etwas verwundert schaue ich dem stetigen Verkehr von meinem kleinen Vorsprung aus zu. Meine Füße werden kalt und mein Atem hängt in der Luft. Einige Momente später drücke ich meinen schwirrenden Kopf ins Kissen. Ich schlafe ein mit dem Lärm der Großstadt im Ohr.
Write a comment