SISU

English text
Eine ganz normale Landstraße in Vantaa, Finnland

Mein Gastvater ist ein ehemaliger Rallyefahrer. Wenn ihr an Autorennen denkt, kommt gedanklich weg von der Formel 1 und hin zu dem, was Finnland wirklich zu bieten hat. Da ich selber überhaupt keine Ahnung von Autos, Rennen und Rallyes habe, schaut euch das folgende Video von Top Gear mal an:

B. nahm mich einmal mit, um eines der Autos von der Werkstatt abzuholen. Auf meine Bitte hin gab er mir ein kleines bisschen Rallyefeeling und jagte die schmale Landstraße entlang in für ihn gemäßigtem Tempo. Rechts und links von der Straße erstreckten sich große Felder und ein Stückchen Wald. Es lag Schnee und ab und zu ein wenig Eis. An seiner Fahrweise war davon jedoch nichts zu spüren. Mein Körper wurde in den Sitz gedrückt, mein Atem wurde flacher und mein Herzschlag schneller. Es verschlug mir die Sprache. Rechts und links flog die Dunkelheit an uns vorbei, der Motor heulte. Würde jetzt ein Elch den Kopf aus dem Wald stecken, dann wäre es vorbei. Dies war eine der Situationen aus denen sich die Reputation der „verrückten Finnen“ begründet. Gefahreneinschätzung läuft hier in Finnland anders, als bei uns in Deutschland. Das liegt daran, dass einige Finnen von Kindesbeinen an in motorisierte Maschinen gesetzt werden und nicht schätzen, ob etwas gefährlich ist, sondern meistens ziemlich genau wissen, dass es kontrollierbar bleibt. Daher erklärt sich, dass jemand der mit gefühlten 200 Stundenkilometern eine dunkle und kurvige Landstraße entlang flitzt, empört zurückweist, dass er jemals auf einem Fluss Schlittschuh laufen würde. (Für mich der Grad der Kalkulierbarkeit beim Autofahren auf Eis und Schnee.) Die Gefahr einzubrechen und vom Wasser unter die Eisschicht gezogen zu werden, ist für so jemanden viel größer, als gegen einen Baum zu fahren. Versteht mich nicht falsch, sie ist nicht absolut größer, aber für einen Finnen, der seit Jahr und Tag auf Eis und Schnee Rallye fährt, eben kalkulierbar. Die Finnen haben ein eigenes Wort für diese Art von Draufgängertum, Mut oder auch Kraft: Sisu. Eine direkte Übersetzung ist schwierig, aber mein Gastvater hat davon eine ganze Menge.

Gleichzeitig ist B. kein Autonarr. In Deutschland ist jemand, der große Teile seines Lebens mit diesen Maschinen verbringt, in der Autoindustrie arbeitet und schon immer Autos geschraubt hat, in der Regel ein Liebhaber. In Finnland jedoch nicht. Natürlich kann B. lange und ausführlich über Autos, die Rallyeszene in den 80iger und 90iger Jahren und Motorräder reden. Besessen hat er davon eine ganze Menge und weit ist er auf den Teilen auch gefahren. Die Maschine ist für ihn jedoch trotz allem ein Gebrauchsgegenstand, der zwar viel Freude bereiten kann, jedoch nicht jeden Sonntag sorgfältig poliert wird. Das bleibt den Deutschen vorbehalten.

Ich bin unglaublich dankbar dafür, dass ich durch Zufall in einen Haushalt geraten bin, der mir diese Differenzierung nahebringt. Von alleine würde ich mich nie und nimmer mit dem Autosport auseinandersetzen. Das ist einfach nicht meine Welt. Ich kann mir vorstellen, dass ich das Rallyefahren an sich megaspannend und aufregend fände (hinter dem Steuer), aber am Wegesrand einer Rallye zu stehen und zuzuschauen, wie andere Menschen ihren Sisu testen? Dazu fehlt mir noch eine ganze Menge finnischer Lebensart. Wer weiß, vielleicht komme ich nach meiner Weltreise hierher zurück und erprobe den finnischen Sommer? Dieser Gedanke kommt mir immer wieder. Es ist schön hier. Wirklich, richtig schön.

 

Bei dem nächsten Video empfehle ich euch das Spektatel ab 00:42. Die Typen, die zum fliegenden Auto rennen, sind keine Rallymitarbeiter, das ist hier Teil des Events.

Write a comment

Comments: 1
  • #1

    Yvonne (Thursday, 26 January 2017 19:06)

    Völlig schräg sowas. Kann ich mir in D nicht die Bohne vorstellen, so ein Fahrvergnügen mit mehreren Überschlägen und alles bloß zur Gaudi.