Ich bin zu Fuß in die nächste Stadt gelaufen: 6,9 Kilometer. Das hätte ich noch vor vier Wochen nie und nimmer freiwillig gemacht. Ich hatte nur eine Stunde für den Weg gebraucht, in Polen waren es für dieselbe Entfernung noch drei! Naja, eine Stunde war trotzdem noch 6 Minuten mehr, als ich berechnet hatte und somit kam ich für meinen Bus zu spät. Hier auf der Insel kamen die Busse pünktlich oder zu früh, wurde mir gesagt. Ich lief also nur noch pro forma zur Bushaltestelle, aber siehe da. Dort stand er. Der Bus nach Panga. Ich stieg ein, der Busfahrer sprach super Englisch (nach Polen und Litauen bin ich immer überrascht, wenn ältere Herrschaften des Englischen mächtig sind) und sogar ein paar Brocken Deutsch. Offensichtlich freute er sich über mich, die ich so einsam und alleine zur Klippe strebte. Das war wohl eine Seltenheit. Als ich ankam, verstand ich warum...
Der Bus war kalt, niemand hatte seine Jacke ausgezogen oder gar geöffnet. Die Mützen blieben auf dem Kopf und die Handschuhe an den Fingern. Die Scheiben beschlugen stetig. Je voller der Bus wurde, desto weniger sah man. Am Ende konnte man nur noch die Farbschemen des vorbei zischenden Waldes erahnen. Nur die Frontscheibe erlaubte eine freie Sicht auf die vor uns liegende Straße. Die Insel an sich war ziemlich platt. Berge gab es keine, nur den Krater eines Meteoriteneinschlags vor ewigen Zeiten und die Klippen von Panga. Mit dem 21 Meter tiefen Abfall ins Meer waren sie hier einzigartig. Da der Bus mich nur bis 2 Kilometer an die Klippe heranbrachte, musste ich von dort aus laufen. Natürlich hatte ich keine anderen Informationen bei mir als die Buszeiten aus der Touristeninformation. Ich wusste nicht, wie diese Klippen aussehen sollten, noch, was ich beim Ankommen erwarten konnte. Ich wusste, dass es nur eine Verbindung zurück in die Stadt gab, und das würde 4 Stunden später sein. Ursprünglich war ich davon ausgegangen, dass es einen Ort an den Klippen geben würde, aber das schlug ich mir aus dem Kopf, als ich bei der Bushaltestelle ausstieg. Ich würde schonmal nirgendwo ein kleines Café finden, in dem ich eine Suppe schlürfen konnte. Ich war mal wieder sehr froh über mein ausgiebiges Frühstück und die Packung Tucs im Rucksack. Ich lief vorbei an einer wunderlichen Schaukelkonstruktion – funny fact, darauf schaukelt man um 360 Grad, einmal drumherum – und dann direkt auf den steinigen Strand. Das sind also die Klippen von Panga! Nicht ganz. Aber vielleicht das? So ging es weiter, denn wie sahen 21 Meter aus? Ich hatte schon so lange keine Hügel oder Berge mehr gesehen. Irgendwann stellte sich die Frage nicht mehr. Das mussten sie sein.
Für die längste Zeit hatte ich dieses Naturphänomen ganz für mich alleine. Ich konnte in Ruhe auf den von Algen überwachsenen Steinen herumbalancieren, so weit weg von der Klippe, dass ich mich vor einem Steinschlag sicher wähnte, und so nah, dass es gerade noch gefährlich war. Meine Schuhe waren wieder einmal Gold wert. Ich hatte mir in weiser Voraussicht genügend Podcasts heruntergeladen, sodass ich nicht allzu lange mit meinen Gedanken alleine war und trotzdem die großartige Geräuschkulisse von springenden Fischen und gegen Steine schwappendes Wasser genießen konnte. Denn kaum hatte ich mein kleines Schreibnest verlassen, kamen mir die Überlegungen aus Sigulda wieder in den Kopf. So ein Ausflug war ganz nett, aber auch notwendig, denn noch schrieb ich keine Fiktion. Noch erzählte ich von meiner Reise und wenn ich mich nicht bewegte und nicht mit Menschen redete, hatte ich nichts zu erzählen. Die Spannung von Introversion ist endlich.
Ich war ungefähr eine Stunde früher als der Bus wieder an der Haltestelle. Übrigens der schönsten welche mir bisher begegnet war. Ich vertrieb mir die Zeit mit Singen und sinnlosen Tonaufnahmen. Ein bisschen zu spät fiel mir auf, wie nah das nächste Haus stand, aber da kam dann auch schon direkt der Bus. Inzwischen war es dunkel geworden und wieder einmal gratulierte ich mir insgeheim dazu, diese Insel ausgesucht zu haben. Die Busfahrerin war extrem freundlich, sie fuhr die Leute praktisch bis vor die Haustür und führte immer kurze und herzliche Gespräche mit ihnen. Mich erinnerte sie an den Knight Bus bei Harry Potter. Erinnert ihr euch? Wer sich in Estland bei Dunkelheit auf der Straße bewegt, ist dazu verpflichtet, reflektierende Kleidung zu tragen. Da es auf dieser Insel nur in der Stadt Straßenbeleuchtung gibt, leuchten die Buspassagiere also auf wie Fliegenpilze, wenn sie an der Haltestelle stehen. Wäre es nicht so sinnvoll, wäre es lustig...
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