Sigulda ist ein kleines Städtchen, von dem aus man das Gaujatal, Teil eines der zahlreichen lettischen National Parks, gemütlich erkunden kann. Dort wohnte ich in einem AirBnB, welches demnächst wohl ein Hostel werden wird, denn das Wohnhaus wurde eifrig umgebaut. Mein Zimmer war riesig und beherbergte zwei Doppelbetten. Da ich an einem Wochenende da war, hatte ich die Freude, dieses im Sommer sehr touristische Gebiet nur mit den einheimischen Wochenendtouristen teilen zu müssen. Die Bäume standen in allen Herbstfarben und das Gaujatal zeigte sich von der besten Seite. Hier gab es Gondeln, Wanderwege, schöne alte Holzhäuser, alte Sommersitze und einen Erlebnispark. Mit etwas Zeit könnte man hier eine ganze Menge erleben, wenn man Freude an Aktivurlauben hätte. (Der einzige Aktivurlaub der mir Freude macht ist Skifahren.) Ich hielt mich an die kleinen Cafés und Bäckereien, in denen man für 50 Cent süße und salzige Teilchen bekam (die dazu noch vorzüglich schmeckten) und machte mich auf den Weg in den Wald. Hier standen alte Bäume, schöne Ruinen und Pilze, Pilze, Pilze. Dazu gab es noch einige Schlösschen und Burgen anzuschauen.
In meiner Unterkunft traf ich eine junge Frau, die ich bereits an ihrem „Hello“ als Deutsche erkannte. Sie war mit einem Auto unterwegs und verbrachte ihren 10-tägigen Jahresurlaub damit, das Baltikum zu bereisen. Sie hatte in ihren zehn Tagen so viel gesehen, wie ich in den vergangenen drei Wochen. Sie hatte ähnliche Erfahrungen mit dem Alleinreisen gemacht wie ich, nur schaffte sie es, alleine Essen zu gehen. Anstatt sich immer wieder in letzter Sekunde aus unerfindlichen Gründen gegen das Restaurant zu entscheiden, so wie ich das tat. Sie ging sehr viel prosaischer vor und wählte einfach nach dem Menü. Gab es etwas, was ihr sympathisch erschien, setzte sie sich rein. Mir dämmerte, dass meine Selbstsabotage, einen weiteren Grund haben müsste. Auch zum Selbstkochen hatte ich keine Muße. Im Nachhinein wurde mir klar: mir fehlten meine eigenen vier Wände. Eine Küche in der ich die Regeln bestimmte und nicht der ewige Gast wäre. Ein Ort an dem ich sein konnte, ohne mich dauernd neuen Eindrücken aussetzen zu müssen. Ich brauchte ein Schneckenhaus. Ich hatte meine erste sich anbahnende Reisedepression.
Mir war bei diesen Grübeleien klar, dass ich sobald ich es geschafft hätte einmal um den Globus zu reisen, keine Sekunde mehr daran zweifeln würde, aber alleine bis Australien waren es noch mehr als viermal so viele Kilometer und mir ging der Dampf aus. Das dauernde Besichtigen von fremden Orten brachte nur wenige Erkenntnisse mit sich. Das ein oder andere Museum konnte, falls es gut war, ein paar zentrale historische Ereignisse aufbereiten, aber viel zu oft waren auch diese eher zum Selbstzweck verkommen. Ich war gelangweilt. Alle Probleme, die ich mir selbst in den Weg werfen konnte, hatte ich nach der ersten Woche gelernt zu umschiffen, oder zu lösen. Mir war langweilig und gleichzeitig war ich überfordert. Ein ungünstiger Mix.
Wieder einmal begann ich darüber nachzugrübeln, wie ich reise, ob das Sich-Zeit-nehmen denn eigentlich den gewünschten Effekt hätte. Denn es gelang mir meistens nicht, richtig einzutauchen in das Leben der Einheimischen. (Das Ziel meiner Reise.) Ein richtig klares Verständnis der Kulturen hatte ich bis dahin auch nicht, obwohl die Gespräche mit E. in Riga und E. & B. in Gdansk ganz großartig waren und ich viel aus ihnen mitgenommen hatte. Ich empfand das Alleinreisen nach der Woche mit K. viel anstrengender als zuvor. Tausend kleine Entscheidungen treffen zu müssen, war mühselig und fühlte sich nicht sehr zielgerichtet an. Ich versuchte zu schreiben, aber auch das klappte nicht. Zumindest schaffte ich es, ein paar Themen und Überschriften zu erstellen. In einem zweiten Rutsch müsste ich diese einzelnen Worddokumente nur noch mit Inhalt füllen. Ich zog mich in mein Zimmer zurück, schaute Serien und schlief. Das klappte erstaunlich gut. Ich brauchte Ruhe. Diesem Impuls nach wählte ich mein zweites Ziel, nachdem die erste Wahl (ein Hof an der Grenze zu Estland) nicht zustande kam. Die Saison war dort schon vorbei, weshalb ich meine Träume vom Pilzesammeln begraben musste. Ruhe wollte ich trotzdem und deshalb suchte ich mir eine niedliche Unterkunft auf einer der estnischen Inseln. Es schien, dass dieses AirBnB meinen Anforderungen an ein Schneckenhaus am nächsten kam. In Estland würde ich die so ersehnte Ruhe höchst wahrscheinlich bekommen und mich sammeln können.
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