Nach 4 Tagen in Klaipéda, in denen ich mir entweder den Kopf zerbrochen hatte oder ohne Erfolg relativ verzweifelt wegen meines verlorenen Geldbeutels von Büro zu Büro gelaufen war, beschloss ich, mich mit einer Fährfahrt zu belohnen. Ich hatte auf einer der Broschüren gelesen, dass es irgendwo auf dieser Insel ein Delfinarium geben sollte und beschloss zur Not einfach dorthin zu gehen. (Ich war noch nie in einem solchen Etablissement und hatte keine Ahnung, was mich dort für eine Tierquälerei erwarten würde.)
Der Cent-Betrag für die Fähre war schnell bezahlt und auf ging es. Der Wind wehte kräftig und die fallenden Blätter begannen gerade, den Boden lustig zu besprenkeln. Erst vom Boot aus offenbarte sich mir die Größe des Hafens von Klaipéda. Auf der Insel dagegen war nichts los. Zwar war Platz für eine unglaubliche Masse an Touristen, ein Parkplatz, größer als ein Fußballfeld und eine Bushaltestelle, aber niemand war da. Die Anlagen versprachen so wenig Charme von Menschenhand, dass mir die vereinzelten hölzernen Villen auch keine Hoffnung machten. Die Saison war hier ganz deutlich schon vorbei.
Ich lief mutterseelenallein los und da ich auf einer Insel war, lief ich einfach vom Weg ab mitten in den Wald hinein. Das Meer hörte man hier bereits toben. Dem Geräusch nach zu schließen, war die Seite zum Meer hin um einiges stärkeren Kräften ausgesetzt als die Seite zum Land hin. Obwohl windig tosten dort keine Wellen. Man hörte das Meer deutlich, sah jedoch nichts. Die Geräusche waren etwas gedämpft, die Luft weich und feucht. Die ganze Atmosphäre war sanft. Ich machte mich also auf den Weg und schaute dabei die ganze Zeit aufmerksam um mich. An einigen Stellen war die Erde aufgewühlt und es sah mir ganz nach dem Revier einer Horde Wildschweine aus. Ich habe sowas noch nie gesehen und auch sonst keinerlei Anzeichen, die diese Theorie bestätigen, dachte mir jedoch: better save than sorry. Mit dieser spielerischen Spannung im Nacken war jedes Knacken im Wald ein Indiz, jedes Spinnennetz und jeder Pilz ein Zeichen für die Unberührtheit dieses Bodens. Er war überwachsen mit niedrigen Gräsern und Moosen. An einigen Stellen streckten sich 20 Zentimeter hohe Gräser in die Luft und bildeten einen goldenen Schleier über dem tief grünen Boden. Die Bäume, meist Nadelgewächse und vereinzelt Birken, bogen sich dramatisch im Wind. Gelegentlich fand man abgebrochene Äste und Baumspitzen, aber bei Weitem nicht so viele, wie in einem wirklich unberührten Wald. (Wie ich einige Wochen später erkennen sollte.) Die aus der Angst entspringende Anspannung führte dazu, dass ich die kleinsten Geräusche zu verorten suchte. Dieser Grad der Aufmerksamkeit wäre mit Begleitung nie möglich gewesen. Ständig war ich an die Spiele meiner Jugend erinnert und die Abenteuergeschichten in Wäldern. Die Geschichten von Ronja Räubertochter und Lysandra hatten mich als junges Mädchen immer besonders gefesselt und bekamen hier eine für mich ganz neue Dimension. Ganz alleine im Wald zu sein, war nicht zu vergleichen mit zusammen in den Wald gehen. Man hörte, roch und dachte so viel mehr, das war einfach großartig.
Im Wald konnte ich mein Glück gar nicht fassen. Ab und zu schaffte es die Sonne durch die Walddecke hindurch und warf charmante Lichtakzente auf Spinnennetze, Moose oder Tannenzapfen. Das Geräusch des Meeres wurde lauter und bevor ich mich versah, stand ich auf einem geteerten Weg. Vor mir war eine ganze Reihe von Schildern, Warnungen und Ankündigungen. Ich stand vor dem Eingang des Frauenstrandes. Nicht vor dem Familienstrand (den gab es auch), genauso wenig wie vor dem Hundestrand oder dem Surfstrand. Wir hatten unseren eigenen. Ich verstand nicht ganz warum, aber ich war amüsiert. Auf ging es, ein paar Holztreppen die Düne hinauf und dann BOOM! Das Meer. So wild habe ich die Ostsee noch nie gesehen, so hungrig und dominant. Das Tosen war atemberaubend und wusch alle Eindrücke des Waldes mit einem Mal weg. Jede Weichheit, jegliches Gefühl von Geborgenheit war schlagartig dahin. Der Wind peitscht mir hart ins Gesicht, das Meer brüllte laut und arbeitete sich Zentimeter für Zentimeter weiter in den Sand. Der war trocken und flog über die Düne ins Landesinnere. Es war als würde die Emotion und die Erschöpfung der letzten Tage aus mir heraus gepustet werden. Nur meine hervorragende Jacke schützte mich vor einem ätzenden Nachmittag. Wohlig eingemummelt konnte ich die Sonne genießen und den Wind aushalten.
Ich hatte an diesem Nachmittag ein absolutes Natur-High. Besser als jede Droge. Es war ein Gemisch von Euphorie, Selbstbestimmtheit, Mut, Größe, Empfindlichkeit und dem Gefühl, alles bewältigen zu können. Es war fantastisch.
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Max (Saturday, 26 November 2016 14:15)
Hey Bella,
hoffe das Natur-High hat noch lange angehalten. Bzw. ich kann mir vorstellen dass sich das bestimmt noch einige Male wiederholt hat :-)
Die Kurische Nehrung klingt definitiv nach einem Highlight und so ein bisschen bekommt man das Gefühl die Essenz deiner Reiselust zu spüren. Das ist superschön!
Hoffe dir geht es sehr, sehr gut. Bin gespannt von weiteren Abenteuern zu lesen.
Ganz, ganz liebe Grüße aus Glasgow
(P.S. Das Licht hier, kurz vor Sonnenuntergang ist wunderschön!)
Bella (Saturday, 26 November 2016 18:11)
Hi Max! Danke! Freut mich sehr, dass was rüber kommt! :-) Liebe Grüße aus Lapland! Hier ist das Licht auch ganz wunderbar. Nutz es und Dreh was cooles! Liebe Grüße aus Kino Varannen!